Kinderschicksale
In den Wochen vor Weihnachten haben wir Steckbriefe erstellt, für die 43 Kinder im Children’s Home. Paten sollen durch die Steckbriefe für die einzelnen Kinder gefunden werden. Wir haben die Lebensgeschichten der Kinder dokumentiert, etwas über ihre Talente und ihr Sozialverhalten geschrieben und Fotos gemacht.
Die Kinder im Children’s Home sind ehemalige Kinderarbeiter, haben auf Kokosnussplantagen gearbeitet, auf Mülldeponien oder als Haushaltshilfen in fremden Familien. Viele von ihnen haben ihre Eltern durch schlimme Krankheiten verloren, oder wurden von der Familie verstoßen, von ihren Eltern auf der Straße oder während eines Festes zurück gelassen. Einige Kinder haben auf der Straße gelebt und gebettelt, manche waren drogenabhängig.
Die Fülle der Geschichten konnte man kaum fassen, unter Zeitdruck haben wir sie aufgeschrieben, sollten schließlich bis Weihnachten fertig werden.
Lakshmi, Divya und Pushba haben zugesehen, wie ihr Vater die Mutter mit einem Stein erschlug, ihr Bruder anschließend die Leiche der Mutter versteckte. Der jüngste Bruder wurde von dem Vater verkauft, die Mädchen lebten von nun an auf der Straße. Zuvor hatten sie in Zelten gelebt, die sie aus Abfall zusammen flickten, neben der Mülldeponie, auf der sie arbeiteten. Sie waren abhängig von Kleber und anderen Drogen, Divya wurde auf der Straße vergewaltigt.
Die Mutter von Shalini und Krishnama wollte gemeinsam mit den Mädchen Selbstmord begehen, nachdem sie erfuhr, dass sie HIV-positiv ist. Der Vater der beiden hatte ihr zuvor gestanden mehrere Affären gehabt zu haben, bevor er sie schließlich verließ.
Yogini arbeitet als Haushaltshilfe bei einem Verbrecher, in mehreren Staaten Indiens wurde er gesucht. Er wollte Yogini heiraten, wie er sich die ältere Haushaltshilfe auch schon zur Frau genommen hatte, ebenso wie deren Tochter.
Bhavia wurde von ihren Eltern an eine muslimische Familie verkauft und arbeitete dort als Haushaltshilfe. Wurde von der Familie misshandelt, ihre Arme überschütteten sie mit kochendem Wasser, wenn sie nicht arbeiten wollte.
Parveen verlor ihre Mutter und später ihre Stiefmutter. Von der neuen Frau ihres Vaters wurde sie zur Prostitution gezwungen. Sie hat zweimal versucht Selbstmord zu begehen, einmal davon im Children’s Home.
Wir kennen die Mädchen inzwischen sehr gut, kennen ihr Lachen und ihre flehenden Augen, ihre Eigenarten und ihre Talente. Man mag die Geschichten kaum glauben, sieht man die quirligen Mädchen spielen. Ein und halb Stunden etwa saßen wir mit Jeshry, der Foster-Mutter, vor den Akten der Kinder. Haben bei jedem dieser Treffen sechs Geschichten durchgesprochen, schreckliche Schicksale aneinandergereiht. Sie anschließend aufgeschrieben und mit Hilda, der Direktorin, durchgesprochen. Eigentlich konnte man dabei bloß auf das Englisch achten…
(Anmerkung:Die Namen der Kinder wurden in dem Bericht geändert.)
In einer anderen Welt
Nachdem wir die Steckbriefe fertig hatten, ging es am nächsten Tag nach Goa! Mit den Freiwilligen aus Karwar und Terikere haben wir uns dort getroffen und konnten in Goa endlich einmal wieder etwas Freiheit kosten. Eine Woche richtig Urlaub! Gut tat das, nach der letzten Zeit, die emotional doch ganz schön schwierig war. Goa unterscheidet sich von den anderen Bundesstaaten Indiens völlig. Im Bikini kann man am Strand liegen und abends feiern gehen. Überall gibt es kaltes Bier, an den Bars am Strand ertönt Techno. An Weihnachten am Strand zu tanzen hat schon etwas, behängt mit Christbaumkugeln und dem leckeren indischen „Weihnachtsessen“ im Magen! Das Essen genossen wir hier in Goa ohnehin sehr, Essen von überall her und das so günstig… Ja, sogar eine deutsche Bäckerei gab es dort! Kaum zu glauben, dass wir überhaupt noch in Indien waren. Hier konnte man Leute treffen von überall her und interessante Gespräche führen, einmal völlig abschalten von allem. Und die ganzen indischen Schätze die man hier kaufen kann! Wie soll man die bloß alle nach Deutschland transportieren? Bettlaken mit indischen Mustern, Taschen, bunte Kleidung, Wandbehänge, Elephantenketten, Tücher und Schmuck, von dem man natürlich an jedem Stand erzählt bekommt, dass er aus echtem Silber sei. Im Handeln konnten wir uns hier jedenfalls gut üben... Doch die Kinder, die uns an den Ständen zu beraten versuchten und das arme heruntergekommenen Viertel kurz vor der Strandpromenade erinnerten uns doch wieder daran, dass auch in Goa nicht so paradiesisch ist, wie es den Anschein macht.
Wieder zurück im Projekt erwarteten uns ganz viele kleine neue Mitbewohner! Es soll ein neues Projekt geben hier, ein Waisenhaus für drogenabhängige Straßenkinder. Die Kinder wurden schon hergebracht, doch fertig wird deren neues zu Hause wohl erst in einem Monat gebaut sein. Aber in Indien „no problem!“, leben die zwanzig Kinder eben solange hier im Bürogebäude und schlafen in dem Computerraum. In dem Gang, auf welchem wir unser Zimmer haben. Jetzt bekommen wir hier doch noch etwas Hostel-Leben mit, wenn die lieben Kleinen an die Türe klopfen und basteln oder singen wollen.
Mit Entsetzen haben wir in den ersten Tagen die Stöcke wahrgenommen, mit denen die Betreuerinnen Kinder schlugen. Saßen mit den Kindern friedlich auf dem Boden und haben gemalt, während sie um uns herum liefen mit gehobenem Stock, den Kindern drohten, wenn sie ihr Blatt Papier nicht ganz voll malten, bevor sie nach einem neuen fragten. Schreie ertönten ständig durch das Haus. Mit Hilda, der Direktorin von Prajna, haben wir darüber gesprochen, die unsere Meinung zu den Umgangsformen der Betreuerinnen von Anfang an teilte und mit ihnen darüber sprach. Hoffentlich wird sich von nun an etwas ändern. Dass Kinder in Indien geschlagen werden, war uns bewusst, auch im Short-Stay-Home schlugen die Frauen ihre Kinder manchmal. Doch dieses Ausmaß hier, das permanente Drohen mit dem Stock und die ständigen Schreie, überragten jegliche Vorstellungskraft, wie eine Herde Tiere wurden die Kinder mit dem Stock durch den Raum getrieben!
Am Sonntag waren wir seit langem einmal wieder im Children’s Home! Haben mit den Kindern Fotorahmen gebastelt und sie mit gefärbtem Sand und Muscheln verziert. Außerdem haben wir Steckbriefe erstellt, mit den Kindern im Grundschulalter um sie nach Deutschland zu schicken. Haben sie ihre Hobbys aufschreiben lassen und sie etwas erzählen lassen über Dinge, die sie mögen. Selbst aufgeschrieben haben sie die Steckbriefe, was sich doch als etwas schwieriger herausstellte, als wir dachten. Kennen die Kinder die englischen Worte zwar und können etwas sprechen, doch sie dann auch zu schreiben, das war für sie nicht immer einfach. Auch Menschenketten haben wir gebastelt, die Kinder sollten sich selbst malen. Im Salwar, natürlich! Die Menschenketten und die Steckbriefe haben wir eben zur Post gebracht, was wie immer abenteuerlich war... An meine alte Grundschule, die Dilsbachschule in Spachbrücken, habe ich sie geschickt. Sie ist Teil meines Förderkreises und unterstützt meinen Aufenthalt hier in Indien. Ich bin gespannt, wann die indische Post in Spachbrücken eintrifft!
Viel gesehen, viel erlebt und morgen geht es weiter nach Terikere, zu der NGO Vikasana! Lange freuen wir uns schon auf den Inter-Projekt-Visit dort! Haben Anna und Johanna uns doch schon oft vorgeschwärmt von ihrem Leben zwischen Plantagen und Feldern und auch Reshma, unsere Mentorin, hat uns gerade eben wieder an die wunderschönen Kaffee-Plantagen erinnert, die dort auf uns warten!
Wir sind gespannt!
Grüße von unserem kleinen Balkon
Lea
So ich oute mich jetzt auch als regelmäßige Leserin eures Blogs. :) Ich liebe eure Berichte über euer buntes, glitzerndes und sicherlich manchmal nicht einfaches Leben in Indien!
AntwortenLöschenEin frohes neues Jahr und weiterhin viele wunderschöne und prägende Erlebnisse :)
Liebe Grüße aus Amerika, Anna :)
Bewegend, gerade wenn man auch zwischen den Zeilen liest. Ihr macht das Leben dort für uns alle fühlbar. Ich wünsche euch Energie, auch in der derzeitigen Situation, mit einem überfüllten Heim und neuen Herausforderungen.
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