Mittwoch, 18. Januar 2012

5 Tage Eintauchen in eine andere Welt

2 Mädchen, morgens um halb sieben, in einem klappernden Bus, der sich durch die zwischen Mangalore und Chikmagalur liegenden Ghats bewegt. Ein Schlagloch nach dem anderen lassen wir hinter uns, am Rande der Straße tummeln sich kleine Äffchen die auf den Abfall der Reisenden warten. Mitten in den Bergen stoppt der Bus, ein kleiner Tempel befindet sich hier und durch den Bus spaziert ein Swami, der Tempelpunkte für die Reisenden verteilt.

Nach 7 Stunden im Bus erreichen wir Tarikere. Eine kleine Stadt, die so ganz anders aussieht als Mangalore. Auf der Hautstraße bewegen sich Ochsenkarren, Wildschweine stöbern nach Müll und Kühe überqueren gemütlich die Straße. Eine richtige indische Kleinstadt eben J

Das Hostel der NGO VIKASANA in dem Anna & Johanna mit 43 Kindern leben, befindet sich 12 km außerhalb Tarikeres, völlig freistehend. Im Garten werden eigene Papaya-,Mango-,und Chikkubäume angepflanzt und die Kinder haben endlos viel Platz zum Spielen.

Es ist so herrlich ruhig dort auf dem Land, die Luft ist frisch und wir genießen es, Urlaub von der Großstadt zu haben.

Der Kopf will vergleichen

Im Hostel teilen sich jeweils ca. 6 Kinder ein Zimmer, auch die Bäder werden nur von einer begrenzten Zahl Kinder benutzt. Es gibt einzelne Räume zum Lernen, zum Spielen und zum Essen. Hinter dem Hostel befindet sich eine große Küche und unter dem nebenstehenden Baum grasen Kühe.

Lea (233) jo (625)

paradiesisches Hostel-Leben                       auf dem Dach, mit Bergpanorama :-)

Für uns ist es im ersten Moment unbegreiflich das alles zu sehen. Verglichen mit dem was unsere Kinder haben, ist hier das Paradies auf Erden. In Mangalore teilen sich 50 Menschen 4 Räume, in denen gelebt, gelernt, gegessen und geschlafen wird. An Betten ist nicht zu denken, auch weil Hilda, unsere Direktorin, meint, mit je mehr die Kinder aufwachsen, umso schwerer wird es ihnen fallen, später mit wenig auszukommen.

Aber die Kinder hier in Chatanahalli wirken freier als die unseren. Kreativer und irgendwie gelöster. Sie haben Raum um sich zurück zu ziehen, Natur, Haustiere und ein Miteinander, dass wirkt als seien sie eine große Familie.

Die Wände sind voll mit Fotos von Ausflügen, sogenannten „Exposure-visits“ nach Mysor, Hampi oder Belur, bei denen die Kinder die Möglichkeit erhalten mehr über die Kultur ihres Landes zu lernen.

Für uns ist immer der Vergleich mit unseren Mädchen in unserem Kopf und wir fragen uns, woran es liegt, dass die Kinder hier so viel besser leben, als es im Children’s Home in Mangalore der Fall ist.

Es mag daran liegen, dass Prajna unendlich viele Projekte unterhält, so vielschichtig ist, dass die einzelnen Projekte manchmal ein bisschen leiden. Natürlich geht es den Menschen besser, als wenn sie auf der Straße leben müssten, aber zu sehen, was in anderen Projekten möglich ist, lässt uns doch ein wenig grübeln.

Familienbesuche

Besonders schön ist es für uns, von Shruti, Anna & Johannas Mentorin, zu ihr nach Hause eingeladen zu werden. Ein winziges Dorf, abgelegen von allem. Hier werden wir von Shruits Mutter herrlich bekocht, dürfen ein traditionelles indisches Haus ansehen uns die ländliche Atmosphäre in uns aufnehmen. Gestärkt mit köstlichem Sweet-Bread, Roti und Pallia machen wir uns auf in ein weiteres kleines Dorf, gemeinsam mit einem der Mädchen aus dem Hostel.

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Shruti’s Mutter macht Sweet-Bread & ein indisches Wohnzimmer

Es ist der Ort aus dem die 11-jährige Bhavana* stammt. Ein Lehmhäuschen reiht sich ans andere. Das Mädchen lebt seit 4 Monaten im Hostel und hatte seit dem keinen Kontakt zu ihrer Familie. Sie wuchs bei ihrer Großmutter auf, da beide Eltern gestorben sind, als sie 5 war. Tante und Onkel, sowie deren 2 Töchter wohnen ebenfalls in dem 2-Zimmer Haus.

Ein Wiedersehen nach 4 Monaten…Wie wohl ein Wiedersehen mit euch allen nach 4 Monaten wäre…Herzliche Umarmungen und unendliche Freude!

Hier, in dem kleinen Hüttchen irgendwo in Indien kommt ein Mädchen nach 4 Monaten nach Hause und niemand reagiert. Die Großmutter und die Cousinen sagen ihr nicht Hallo, fragen mit keinem Wort, wie es ihr ergangen ist. Bhavana sitzt völlig verschüchtert in einer Ecke, ihre Körperhaltung zeigt, wie unwohl sie sich fühlt.

Die Cousinen gehen nicht in die Schule, sie arbeiten für 60 Rupien am Tag (etwas weniger als 1€) in einer nahe gelegenen Ziegelfabrik. Die Großmutter brauchte das Geld um die kleine Hütte zu errichten. Jetzt sind die Mädchen schon so ans Arbeiten gewöhnt, dass sie selbst nicht zur Schule gehen wollen. Ihre Chance auf Bildung…verspielt. Sie sind über 14 und damit herrscht für sie keine Schulpflicht mehr.

Das Leben wirkt so ärmlich hier, trotzdem steht im Eingangs/ Schlaf und Esszimmer ein Fernseher. Anstelle dessen, die Enkeltöchter in die Schule zu schicken, kaufte die Großmutter diesen, um sich tagsüber beschäftigen zu können. Für uns völlig unverständlich, für die Menschen hier völlig nachvollziehbar.

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Frau vor Fernseher                                             “Familien”Foto

Wir alle sind froh der Atmosphäre des Hauses wieder entfliehen zu können. Für Bhavana erfolgt kein Abschied von ihrer Familie. Ein Nicken höchstens.

Manchmal ist die indische Kultur, von der wir in den vergangen Monaten so viel kennen lernen durften uns nah und nachvollziehbar. In dem Lehmhäuschen auf dem Land verschließt sie sich gänzlich vor uns, ist für uns unverständlich und erschreckend.

Schulbesuch & Hosteltag

Am Sonntag dürfen wir dann richtig Hostel-Atmosphäre schnuppern und verbringen den ganzen Tag mit den Kindern, pflücken Chikkus, gestalten eine Drawing-Class und tauchen ein in den Alltag der Mädchen.

Am darauf folgenden Tag begleiten wir die die Grundschüler (das bedeutet in Indien die erste bis siebte Klasse) in ihre Schule. Beim Morgenappell stehen die Kinder in geordneten Reihen, singen die Hymne Karnatakas und Indiens, schwören ihrem Land die Treue.

Wir dürfen die Methode des sogenannte „activity-based-learning“ kennenlernen. Ein Lernsystem für die 1.-3. Klasse. Die Methode erinnert an Montessori, die Kinder lernen selbstständig, der Lehrer ist da um Fragen zu beantworten, hält sich ansonsten aber weit gehend zurück. Erarbeitetes hängt an den Wänden, alles wirkt sehr kreativ. Jedes Kind hat eine Tafel an der Wand, die Aufgaben sind in Fächern geordnet und die Kinder erarbeiten sie, jedes in seinem Tempo. Ein sehr innovatives Lernsystem, das uns begeistert.

Nach diesen 3 Jahren Unterricht ändert sich das Lernsystem für die Kinder schlagartig auf Frontal-Unterricht.

Damit ihr euch einen Eindruck von dem Appell machen könnt, hier ein kleines Video:
http://www.youtube.com/watch?v=9h10pKGL4y0&feature=youtu.be


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“Activity-based learning”                       "Dorfschulen/ Dorfleben”

Nach dem Schulbesuch spazieren wir zurück ins Hostel, genießen unsere „Viersamkeit“ und die Ruhe im Hostel, bevor die 43 Kinder wieder aus der Schule kommen und laute „hiiii Kanakaaaa!“ Rufe zu hören sind.

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Für uns war es unendlich interessant Vikasana zu besuchen, haben wir jetzt doch gesehen, wie ein Hostel funktionieren kann. All das Gesehene können wir nun hier diskutieren und einiges davon vielleicht auch in unserem Children’s Home anbringen.

Wir haben die Tage in dieser ganz anderen Welt sehr genossen! Das Eintauchen in das Projekt, 40 neue wundervolle Kinder, aufgeschlossene Mentorinnen, Landluft und Natur!

as Indians say: Love and best wishes to all of you!

Octavia

Dear Shruti, Mamatha, Anni &Jo!                                                      
Thank you so much for the wonderful days we were allowed to spend with you! Thank you Shruti for introducing us to your family and thank you for letting us become a part of the “Vikasana-family” for 5 days. We enjoyed it so much!

Eindrücke unseres interproject-visits:

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Annas 22. Geburtstag “Hoch soll sie leben!”


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Abenddämmerung auf dem Hostel-Dach

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eine stehengebliebene Rikscha mit 8 Insassen :-)

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Donnerstag, 5. Januar 2012

Kinderschicksale, Weihnachtszeit, Veränderung

Kinderschicksale

In den Wochen vor Weihnachten haben wir Steckbriefe erstellt, für die 43 Kinder im Children’s Home. Paten sollen durch die Steckbriefe für die einzelnen Kinder gefunden werden. Wir haben die Lebensgeschichten der Kinder dokumentiert, etwas über ihre Talente und ihr Sozialverhalten geschrieben und Fotos gemacht.
Die Kinder im Children’s Home sind ehemalige Kinderarbeiter, haben auf Kokosnussplantagen gearbeitet, auf Mülldeponien oder als Haushaltshilfen in fremden Familien. Viele von ihnen haben ihre Eltern durch schlimme Krankheiten verloren, oder wurden von der Familie verstoßen, von ihren Eltern auf der Straße oder während eines Festes zurück gelassen. Einige Kinder haben auf der Straße gelebt und gebettelt, manche waren drogenabhängig.
Die Fülle der Geschichten konnte man kaum fassen, unter Zeitdruck haben wir sie aufgeschrieben, sollten schließlich bis Weihnachten fertig werden.
Lakshmi, Divya und Pushba haben zugesehen, wie ihr Vater die Mutter mit einem Stein erschlug, ihr Bruder anschließend die Leiche der Mutter versteckte. Der jüngste Bruder wurde von dem Vater verkauft, die Mädchen lebten von nun an auf der Straße. Zuvor hatten sie in Zelten gelebt, die sie aus Abfall zusammen flickten, neben der Mülldeponie, auf der sie arbeiteten. Sie waren abhängig von Kleber und anderen Drogen, Divya wurde auf der Straße vergewaltigt.
Die Mutter von Shalini und Krishnama wollte gemeinsam mit den Mädchen Selbstmord begehen, nachdem sie erfuhr, dass sie HIV-positiv ist. Der Vater der beiden hatte ihr zuvor gestanden mehrere Affären gehabt zu haben, bevor er sie schließlich verließ.
Yogini arbeitet als Haushaltshilfe bei einem Verbrecher, in mehreren Staaten Indiens wurde er gesucht. Er wollte Yogini heiraten, wie er sich die ältere Haushaltshilfe auch schon zur Frau genommen hatte, ebenso wie deren Tochter.
Bhavia wurde von ihren Eltern an eine muslimische Familie verkauft und arbeitete dort als Haushaltshilfe. Wurde von der Familie misshandelt, ihre Arme überschütteten sie mit kochendem Wasser, wenn sie nicht arbeiten wollte.
Parveen verlor ihre Mutter und später ihre Stiefmutter. Von der neuen Frau ihres Vaters wurde sie zur Prostitution gezwungen. Sie hat zweimal versucht Selbstmord zu begehen, einmal davon im Children’s Home.
Wir kennen die Mädchen inzwischen sehr gut, kennen ihr Lachen und ihre flehenden Augen, ihre Eigenarten und ihre Talente. Man mag die Geschichten kaum glauben, sieht man die quirligen Mädchen spielen. Ein und halb Stunden etwa saßen wir mit Jeshry, der Foster-Mutter, vor den Akten der Kinder. Haben bei jedem dieser Treffen sechs Geschichten durchgesprochen, schreckliche Schicksale aneinandergereiht. Sie anschließend aufgeschrieben und mit Hilda, der Direktorin, durchgesprochen. Eigentlich konnte man dabei bloß auf das Englisch achten…

(Anmerkung:Die Namen der Kinder wurden in dem Bericht geändert.)



In einer anderen Welt

Nachdem wir die Steckbriefe fertig hatten, ging es am nächsten Tag nach Goa! Mit den Freiwilligen aus Karwar und Terikere haben wir uns dort getroffen und konnten in Goa endlich einmal wieder etwas Freiheit kosten. Eine Woche richtig Urlaub! Gut tat das, nach der letzten Zeit, die emotional doch ganz schön schwierig war. Goa unterscheidet sich von den anderen Bundesstaaten Indiens völlig. Im Bikini kann man am Strand liegen und abends feiern gehen. Überall gibt es kaltes Bier, an den Bars am Strand ertönt Techno. An Weihnachten am Strand zu tanzen hat schon etwas, behängt mit Christbaumkugeln und dem leckeren indischen „Weihnachtsessen“ im Magen! Das Essen genossen wir hier in Goa ohnehin sehr, Essen von überall her und das so günstig… Ja, sogar eine deutsche Bäckerei gab es dort! Kaum zu glauben, dass wir überhaupt noch in Indien waren. Hier konnte man Leute treffen von überall her und interessante Gespräche führen, einmal völlig abschalten von allem. Und die ganzen indischen Schätze die man hier kaufen kann! Wie soll man die bloß alle nach Deutschland transportieren? Bettlaken mit indischen Mustern, Taschen, bunte Kleidung, Wandbehänge, Elephantenketten, Tücher und Schmuck, von dem man natürlich an jedem Stand erzählt bekommt, dass er aus echtem Silber sei. Im Handeln konnten wir uns hier jedenfalls gut üben... Doch die Kinder, die uns an den Ständen zu beraten versuchten und das arme heruntergekommenen Viertel kurz vor der Strandpromenade erinnerten uns doch wieder daran, dass auch in Goa nicht so paradiesisch ist, wie es den Anschein macht.






Wieder zurück im Projekt erwarteten uns ganz viele kleine neue Mitbewohner! Es soll ein neues Projekt geben hier, ein Waisenhaus für drogenabhängige Straßenkinder. Die Kinder wurden schon hergebracht, doch fertig wird deren neues zu Hause wohl erst in einem Monat gebaut sein. Aber in Indien „no problem!“, leben die zwanzig Kinder eben solange hier im Bürogebäude und schlafen in dem Computerraum. In dem Gang, auf welchem wir unser Zimmer haben. Jetzt bekommen wir hier doch noch etwas Hostel-Leben mit, wenn die lieben Kleinen an die Türe klopfen und basteln oder singen wollen.

Mit Entsetzen haben wir in den ersten Tagen die Stöcke wahrgenommen, mit denen die Betreuerinnen Kinder schlugen. Saßen mit den Kindern friedlich auf dem Boden und haben gemalt, während sie um uns herum liefen mit gehobenem Stock, den Kindern drohten, wenn sie ihr Blatt Papier nicht ganz voll malten, bevor sie nach einem neuen fragten. Schreie ertönten ständig durch das Haus. Mit Hilda, der Direktorin von Prajna, haben wir darüber gesprochen, die unsere Meinung zu den Umgangsformen der Betreuerinnen von Anfang an teilte und mit ihnen darüber sprach. Hoffentlich wird sich von nun an etwas ändern. Dass Kinder in Indien geschlagen werden, war uns bewusst, auch im Short-Stay-Home schlugen die Frauen ihre Kinder manchmal. Doch dieses Ausmaß hier, das permanente Drohen mit dem Stock und die ständigen Schreie, überragten jegliche Vorstellungskraft, wie eine Herde Tiere wurden die Kinder mit dem Stock durch den Raum getrieben!

Am Sonntag waren wir seit langem einmal wieder im Children’s Home! Haben mit den Kindern Fotorahmen gebastelt und sie mit gefärbtem Sand und Muscheln verziert. Außerdem haben wir Steckbriefe erstellt, mit den Kindern im Grundschulalter um sie nach Deutschland zu schicken. Haben sie ihre Hobbys aufschreiben lassen und sie etwas erzählen lassen über Dinge, die sie mögen. Selbst aufgeschrieben haben sie die Steckbriefe, was sich doch als etwas schwieriger herausstellte, als wir dachten. Kennen die Kinder die englischen Worte zwar und können etwas sprechen, doch sie dann auch zu schreiben, das war für sie nicht immer einfach. Auch Menschenketten haben wir gebastelt, die Kinder sollten sich selbst malen. Im Salwar, natürlich! Die Menschenketten und die Steckbriefe haben wir eben zur Post gebracht, was wie immer abenteuerlich war... An meine alte Grundschule, die Dilsbachschule in Spachbrücken, habe ich sie geschickt. Sie ist Teil meines Förderkreises und unterstützt meinen Aufenthalt hier in Indien. Ich bin gespannt, wann die indische Post in Spachbrücken eintrifft!




Viel gesehen, viel erlebt und morgen geht es weiter nach Terikere, zu der NGO Vikasana! Lange freuen wir uns schon auf den Inter-Projekt-Visit dort! Haben Anna und Johanna uns doch schon oft vorgeschwärmt von ihrem Leben zwischen Plantagen und Feldern und auch Reshma, unsere Mentorin, hat uns gerade eben wieder an die wunderschönen Kaffee-Plantagen erinnert, die dort auf uns warten!

Wir sind gespannt!
Grüße von unserem kleinen Balkon
Lea